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Friday, 25 July 2014

Der Parkbank Pinkler
Kapitel VI: die stillschweigende Unruhe


„Am Grab der meisten Menschen trauert, tief verschleiert, ihr ungelebtes Leben.“
Georg Jellinek

VI.


Etwas stimmt hier nicht.

Verzweifelt stand die Einkäuferin am Rand dieses Etwas, hat sich nicht wirklich wieder gefunden, nachdem sie sich ewig lang nicht wirklich verloren fand - oder aber ist sich nicht wieder aufgetaucht, nachdem sie vorhin gestohlen worden war, suchend aber, indem sie nur dank des Denksteins ihres Kinderwagens überhaupt noch aus dem nicht wirklichen Chaos, aus dieser Kaufhalle wieder, über einem Kaufhauschaos hinaus, aber nicht wirklich ein Chaos -, nicht wirklich zugrunde ging. Nicht wirklich verzweifelt. Aber Unverzweifelt auch nicht.

Sekunden wie Minuten. 

Was war das da drin? fragt sie sich, nachdem sie die Kaufhalle auf weit hinaus hinaus wollten. Zuerst einmal wegen dem Geruch. So tief ein Mief war das, ging er nicht nur in die Nase, hat aber auch Wirkung auf dem Haut, und zwar nicht so eine synästhetische Wirkung, hat doch eine eigene Temperatur. Ein Gestank nicht neben der Wärme, sondern eine Wärme neben dem Gestank. Und da war sie noch nicht durchs Drehkreuz gelangen, also bevor sie selbst für die Drehkreuzigung entschied, wobei sich nicht sicher nicht jede Fläche vom Mief bedeckt.

Was wollte ich hier überhaupt? fragt sie sich, nachdem sie mit dem Durchdrehkreuzigung ihre sicher nicht nicht sinnlosen Kaufchaos Bummel anfing. Brauche ich sowas? als sie wieder vorn in der Frischluft stand.

Dazwischen war der Einkauf.

In drehkreuznähe bewegt sich eine andere Frau mit Kinderwagen ganz vorne in der Schlange und aus Frust antwortete, "Wohin willste, det ik denn damit?" Es war keine Antwort auf etwas Ausgesprochenes, sondern einen Gegenschlag auf etwas Projiziertes, etwas überempfindlich wahrgenommen also. Und so kam die Erwiderung dieser ungefragten Antwort von Einer, die in der Schlange direkt hinter der Frustrierter stand, "Ik hap jar nüscht jesagt!"

Die Frustrierte vergegenwärtigt jene Straßenverrückte, deren siebensilbige Schrei vom oben aus in der Wohnung der Einkäuferin Gehör findet. Diese sieben Silben sind deutlich im Ton und der Wellenform, also immer die gleiche, beinhalten leider keine erkennbare Sprache. Soweit man feststellen kann, beinhaltet die sieben Silben eine interpretierbare Muster von fünf oder sechs Worte. Dann, wo die Einkäuferin näher darüber nachdachte, gibt es doch noch eine Silbe, kurz und leise am Ende hinzugefügt, wie die Tauben die erste Silbe ihrer Dreizeiler am Ende der dritten Zeile ausklingt, was aus ihre fünfzehn Silben sechzehn werden. Die Verrückte dagegen übt keine Wiederholung, zumindest nicht ohne minutenlange Pause zwischen den Zeilen, dafür auch noch weniger melodisch.

Jedoch der entscheidende Unterschied zwischen den stimmhaften Ausbruch der Verrückte und den dieser Frustrierte ist nur die Verständlichkeit der Worte, und diese vermutlich auch wohl kaum. Trotzdem müssen die Ausbrüche von Bedeutung sein.

Man hört, dass eine Obdachlose, im Gegensatz zu dem männlichen, neigt öfter dazu, um sich laut zu schreien und verrückt vorzutäuschen, um beliebige Leute fern zu halten, vor allem böse Männer.

Auf der andere Seite schien diese Frustrierte sagen zu wollen, ‚Ich brauche Hilfe' oder genauer gesagt, ‚Biste bekloppt oder was? Sehen kannste, det ik Hilfe brooch!'

Oder aber ist es umgekehrt. Diese will alle schließlich mal loswerden und jene irgendjemand herholen, will Nähe.

Oder, nein. Die sind gleich. Beide bringen eine unangenehme Wahrheit zum Ausdruck, nicht erkennbar wegen der Schichten der Geschichte, lebendig begraben unter den Regalen mit angesammelten Brot und Marmelade, eingepackte Konserven in Gläser und Dosen und zig Arten von Zellophantüten noch mal geschachtelt, damit sie effektiver etikettiert werden können, in dem sie sagen was da drin steht aber nicht wie es da draußen geht, wo sie herkommen aber nicht womit. Begraben ja. Unterm Ladentisch. Unter uns.

Das Um-Sich ist einfach zu laut geworden. Oder gegenüber dem Gesprochenen, zu quasi-selbstverständlich. Unbewusst ist auch, dass es auf gar keinen Fall selbstverständlich sein kann. Die Faden sind so verloren wie vorbei.

Was die Frustrierte tat, war aber irgendwie genauso einfach wie ungewollt: sie hat eine unausgesprochene Unruhe ausgesprochen, sogar mehr hat sie hervorgerufen, was das anwesende Einkaufskollektiv nicht wahrhaben wollte und nie wahrnehmen möchte.

Was tun wir hier einander an? Ist es Hilfe oder Hinderung?

Es hat sich nicht mit der Frustrierte angefangen, dieser Vorfall auch nicht. Dieser Vorfall besteht nun aus der Perspektive, wiederum aus dem Kurzzeitgedächtnis der Einkäuferin, die gerade zuletzt mit den eigenen Kinderwagen, wenn nicht gerade angenehm, in angenehmer Luft vor der Kaufhölle stand.

Dieser Vorfall ist ein Einkauf.

Labyrinthisch gelegt zwischen der miefgeschminkten Drehkreuz und der heraufbeschworenen Trostlosigkeit an der Kasse war der Einkauf. Es war keine lebhafte Fantasie nötig, dass die Einkäuferin sich alle Ware genauso Stinkgeschmiert vorstellte, und bei so einem milden Tag solch eine Temperatur zu erspüren war ihr auch gerade keine Überraschung.

Trotzdem.

Es wurde nicht gesprochen in der Halle, wenn doch unter einzelnen Paaren flüchtig geflüstert, als wollten sie unerkannt bleiben. Die Einkäuferinnen und Einkäufer waren doch wie ein Einkaufskollektiv, ziemlich roboterhaft und kalt zielorientiert im Gegensatz zu der verwirrend muffigen Lufthülle und dementsprechenden Stimmungslage. Hierfür muss das Wort Atmosphäre geprägt worden sein.

Mithin stand dieser beherrschender Gedanke ebenfalls in der Luft, als sie an der Billigwarenregalen vorbeihuschte, und als sie sich urplötzlich wieder angeekelt mitten in der, was da für eine Obst und Gemüse Abteilung gilt, befand, und als sie sich, samt Kinder- und Einkaufswagen, in der Endschlange hineinzwängte.

Und dann wieder vor der Kaufhalle. Nicht, dass sie sich zwischendurch nicht angeekelt gefühlt hat, nur, dass die Schwelle immer wieder erreicht worden war, dass sie immer wieder hat denken müssen... 

Etwas stimmt hier nicht.

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Alexanderstraße, Berlin-Mitte - 2014