„Das Leben läuft Krebsgängig.“
—Friedrich Wilhelm SALM Rolfe
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Insofern als ich nicht hierzu hätte umhin kommen können, ist es ziemlich bemerkenswert, von meiner Warte aus beunruhigend, dass ich es mehr oder weniger fünfundzwanzig Jahre lang umhinkam. Was mir in dieser Zeitspanne entgangen war, war von mir im Besitz: ein Buch, genauer gesagt, eine Kurzgeschichte, gedrückt inmitten einer Sammlung davon; das Vierteljahrhundert — währen das Buch mit mir zusammen reiste oder im Regal stand, wo auch immer ich ein Bücherregal besaß, in Taschen gesteckt war oder bei Mme Natascha in einer Kiste ihrer Keller, als ich mir noch vorstellen könnte, meine Natascha nach zu holen, sollte ich denn dazu irgendwann mal wieder in der Lage sein — hat nun ein jähes Ende genommen, wennschon im drei steigenden Stücken.
Eine Reihe von Zufällen, bzw. der gleiche dreimal innerhalb weniger Tage, weniger als die drei Vorkommnisse, meine ich, wobei ich dreimal auf den Befehl stieß, eine gewisse weltbekannte Stadt nie zu besuchen, ist das, was mich nicht weiter durchlässt. Seitdem bin ich an dieser Stelle stecken geblieben.
Das erste Vorkommnis ist nur im Nachhinein ein Vorkommnis. Vor drei Tagen war es ein alltägliches Ereignis, nach der Wiederholung wurde es ein interessanter Fall und nach dem dritten Fall das erste einer Reihe von Vorkommnissen, das gar keinen Zufall mehr sein könnte, zumindest nicht, nachdem ich die Geschichte unter dem Titel des ursprünglichen Falls gelesen hatte. Viel mehr ist es zu dem, was man nicht umhin kommt, an das Wort Schicksal zu denken, obwohl ich immer noch nicht weiß, wieso gerade dieses Schicksal und wieso gerade nun.
Wie es dazu kam, dass ich an dem ersten Tag ein Lieblingsbuch herausholte, hat nicht mit der relevanten Geschichte zu tun. Ich suchte an dem Tag die Stelle eines meines Lieblingssätze. Er befindet sich in der viertletzten Zeile von der Erzählung einer Frau, die als Geburtstagsmädchen im Besitz von einer Puppenstube geworden war, wodurch mehr oder weniger die folgenden dreißig Jahren eine Wirtin eines Hauses wurde, nach dem Vorbild der Puppenstube, ohne es zu Wissen, auch wenn die Stube schon vor mehr oder weniger dreißig Jahren einige gruselige schicksalhafte Ahnungen angespielt hatte.
Nein. Es handelt sich nicht von dieser Geschichte, sondern von der danach, deren Beginn an der gegenüberliegenden Seite vom Ende der Icherzählung der Dame, die meinte nichts falsch gemacht zu haben, weder als Geburtstagsmädchen noch als verlorene Frau, woraufhin sie eine stillschweigende Antwort bekam. Nach dem darauf folgenden Schlusssatz kommen auf der nächsten Seite Buchstaben viermal so groß, anscheinend viermal so schwarz. Als ich diesmal die daraus gebildete Überschrift las, hab ich sie mir als so gut wie „Tue es nicht!“ angezogen. Früher dagegen war sie nur ein aus Aufforderungssatz gebildetem Titel ohne persönliche Bedeutung.
Freilich gibt es nun ja mehrere mögliche Gründe, warum ein Bild auf einmal anders wirkt als das bisherige Sonst. Ob diese Gründe als Ursachen oder Beweggründe zu betrachten sind, muss sich auch erst noch zeigen. Im Gehirn hantieren das Unbewusste und das Bewusste an einander so, eventuell das Unbewusste bewusst am Bewussten und, umgekehrt, das Bewusste unbewusst am Unbewussten, wenn auch noch indirekt, dass die daraus gelegte Nervenbahn, gleichsam das Gesamtsein, unzählbar Hinweise auf dem Weg gelegt bekommen, ab und an wie Stolpersteine, die unvermittelt das Einzelbild neu rahmen. Es gibt also mehrere Schnittstellen, wo das Bild anders wirkt als das bisherige Sonst.
Wenn es ein ganz Obendrein gibt, dann gibtses hier. Wohin gehe ich gerade? Was trage ich eben mit? Ich empfehle jedem einzelnen, jedes Mal, wenn das Bild plötzlich eine andere Farbe hat, diese Fragen zu stellen. Wohin gehe ich gerade und was trage ich eben mit? Erst nach der Beantwortung dieser Fragen kann Denken an »wohin gelangt« anfangen. Dazu gilt der Ratschlag, nicht mit der »woher gerade« Frage abzulenken. Sie ist zu tief mit der Selbstidentität verbunden und da ist nicht der richtige Zeitpunkt dafür, sie zu ermitteln. Das kommt noch, und zwar laufend.
Also, gestoßen auf die unzählbare Schnittstelle eins: Wohin? Antwort: Ich wollte ein Lieblingssatz nicht nur wie gehabt parat aussprechen sondern ihn wieder vorlesen. Was trug ich da mit? Begehren. Wonach? Verdammt gute Frage. Scheiße. Wollte ich ihn halt lesen oder dessen Genauigkeit erneut versichern? Und da bin ich fast schon von der »woher« Frage gefangen. So einfach ist dies nicht. Begehren führt in eine Sackgasse.
Dafür gibt es diese mich mahnende nicht nagelneue Antierzählung über einen gewissen Fern. Fern heißt also der Typ, der gleich eine weltbekannte Weltstadt besucht, der er mit traumwandlerischer Sicherheit besser fernbleibt. Auch hier ist die Handlung so bildlich beiläufig wie buchstäblich randständig seine Verhaltensmerkmale, die mir unheimlich genau vorkam, direkt aus meinem Leben gegriffen worden zu sein. Je weiter ich von denen las, desto sicherer war ich, dass die Züge von mir stammen. So, bis es nicht zu leugnen wäre, dass wir ein und derselbe sind. Erst der gleiche und dann derselbe.
Als zum Beispiel zum Auftakt beschrieben wurde, wie nur aus der Unmöglichkeit ein Hilfloser zu sein, Fern kein Hilfloser sein kann, merke ich sofort als selbst ermöglichter Hilfloser warum ich kein Hilfloser bin, und deswegen denke ich, Fern bin ich nah. Umgekehrt, als gemeint wird, Fern seinen Wesenszug loswerden möchte, trotz seiner Ansicht, der sei zugleich das Beste an ihm überhaupt, gelange ich zu der Überzeugung, mir ähnelt Fern.
Unbeschreiblich unheimlich ist die Schilderung des Erzählers, wie fremd ich bin, wenn auch von ihm behauptet wird, es gäbe dafür keinen erklärenden Grund. Und trotzdem habe ich das Gefühl, den Schlüssel meines Lebens über Jahrzehnte unwissend mit mir herumgetragen zu haben. Wenn das nicht stimmen sollte, wahrhaft ist ohnedies, dass ich so gut wie laufend log, als ich immer wieder verkündet hatte, ich hab keinen Ausweis.
Zum Schluss nebenbei lautet der ausgesuchte Satz „So fern von antwortend, zerging sie in die Schwärze und schloss still die Tür."
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