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Tuesday 22 March 2022

Der Parkbank Pinkler Kapitel XXXII:
der Dienstälteste, meistens indirekt


XXXII.
 
Immer gerne bereit, die durch sein Alter erworbene Fülle an Informationen zu verraten, begann der Dienstälteste seine Ausführungen mit der belanglosen Bemerkung, dass, wenn man 1980 Einsicht in eine Akte nehmen wollte, musste man dies schriftlich bei der zentralen Behörde beantragen, was ohne einen entsprechenden Gerichtsbeschluss zu einer Wartezeit von mindestens zwei Wochen führte. Und das nur, um eine Rückmeldung zu erhalten, wo und wann, wenn überhaupt, die erbetenen Informationen, die in der Regel auf Mikrofiche archiviert sind, eingesehen werden können.
 
Selbst mit dem entsprechenden Gerichtsbeschluss, so stellt er mit einem gewissen Ernst fest, erfolge die Durchsicht der Originalakte unter strengen Kontrollen, die die strengsten aller auf internationalen Flughäfen durchgeführten Kontrollen erbärmlich lückenhaft erscheinen ließe.
 
Das ist nur alles, was man heute per elektronischer Signatur auch mit Handy aufrufen könne. Nicht als wäre das vonnöten. Mit Hacking sei alles möglich. Wäre Hacking nicht möglich, würde es keinem einfallen, es zu verbieten.
 
Er stoppt und dreht sich um. »Was verboten ist, ist möglich, und was möglich ist, wird gemacht. Rechnet damit.« Er dreht sich wieder um und setzt den Weg fort. Sie  gehen den langen Korridor hinunter zu einem Paternoster. Es war wie ein Besuch in der Geschichte und nicht nur in der staubigen Enge eines Archivs.
 
Apropos gehackte Akten sei es keine schlechte Idee, nun anstatt später Digitaldaten mit Originaldaten zu vergleichen, falls man schon den Gerichtsbeschluss hat. Nichts werfe seinen spöttischen Schatten mehr auf die sonst so anstrengende Arbeit des Ermittlers als die mindestens halbjährlich erscheinenden Zeitungsartikel, wie einen Fall neu aufgerollt wird. Es handele sich immer davon, dass etwas Vorhersehbares Jahre lang übersehen würde. »Das ist natürlich Quatsch. Vorsicht Stufe.«
 
Was da als übersehen gelte, würde eigentlich in dem wichtigen Moment überhaupt nicht in Betracht gezogen. Falls doch, erhalte der Begriff der kriminellen Fahrlässigkeit eine Bonusbedeutung.
 
»Sagen wir mal, dieser Gefangene hat das gehackt, was seine Lüge ins Wahre wandelt. Wenn man schon bei der Überprüfung seiner Geschichte dabei ist, sollte man dann nicht auch die Daten überprüfen, um auszuschließen, dass er das eine verändert hat, um es dem anderen anzupassen?«

Nun könne man meinen, dass die Überprüfung des Originals diese Überlegung überflüssig mache, was teilweise stimmen würde, es sei denn, er hätte einen Komplizen mit Zugang zu dieser Kellerkammer und den darin befindlichen Akten. Er schmunzelt. »Aber würden Sie nicht trotzdem wissen wollen, ob er versucht hat, die Digitalsate zu ändern?«
 
Als jemand, der im Osten geboren und in der Strafverfolgung ausgebildet wurde und in seinen frühen Zwanzigern für den Westen abgehauen ist, war er auch immer bereit, sein kollegiales Publikum mit Details über die großen Unterschiede und die, in dieser Hinsicht, bemerkenswerten Übereinstimmungen zwischen den beiden Ländern zu erfreuen, und zwar nicht nur in Bezug auf das Polizeiprotokoll.

Während er auflistete, was er über jedes historische bürokratische Detail wusste, meist in einer Art und Weise, die nicht erkennen ließ, ob er diese Dinge unnötig mühsam fand oder ob er diejenigen, denen er die Informationen gab, testen wollte, warf er auch Statistiken über die Präsenz ethnischer Nationalisten bzw. Leute mit faschistischen bzw. neonazistischen Tendenzen bei der Polizei in verschiedenen Bezirken auf beiden Seiten der Berliner Mauer im Vergleich zu Vergleichen zwischen denen in weiter entfernten Gebieten wie Brandenburg und München, Sachsen und Niedersachsen, Thüringen und Hessen usw., wobei die aufschlussreichste Tendenz darin bestehe, wie jedes Land die Gesamtheit derjenigen seines Gegenübers darstelle, verglichen damit, wie sie anscheinend ihre eigenen wahrnehme, oft völlig im Gegensatz zu Schlussfolgerungen, die sie in ihren eigenen Berichten aus denselben Untersuchungen gezogen habe.
 
Als, zum Beispiel, abgeleitet worden sei, dass eine Koinzidenz von sieben bis siebzehn Prozent im aktiven Dienst in den beiden letztgenannten Länder zu verzeichnen wäre, habe der Staat den beunruhigenden Charakter der siebzehn Prozent in dem gegenüberliegenden Land hervorgehoben, während es eine relativierte Bedeutungslosigkeit von sieben Prozent in seinem eigenen Land angeführt habe.

Jedes Land berücksichtige lediglich die Unzuverlässigkeit der Methoden des anderen Landes zur Erfassung solcher Daten, dementsprechend die Verfassungsmäßigkeit der Spionagetechnik des Anderen in Frage stelle.

Das soll heißen, so sagte er schließlich, als sie offenbar den gewünschten Raum betreten wollten, in dem einzigen Moment, in dem er eine ernsthafte Ansicht zu irgendetwas verriet, dass diejenigen, die sich für ein Bollwerk gegen etwas halten, das sie als etwas anderes als sie selbst wahrnehmen, unzuverlässige Zeitzeugen der Geschichte wäre.
 
Als er eine verrostete Metallschublade durchwühlte, fügte die historische Fußnotiz hinzu, dass jedes selbsternannte Imperium bei jeder seiner Militäreinsätze die Unterstützung von ungefähr siebzig Prozent seiner Bevölkerung habe, was, wie er anmerkte, in Hinblick auf die restlichen dreißig Prozent ebenso bemerkenswert wäre wie wegen der inselartigen Leichtgläubigkeit jeder Mehrheit.

»Da ist sie. Häftlingsnummer 78906-54.«
 
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