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Wednesday 30 August 2017

Der Parkbank Pinkler
Kapitel XXIII: ausgeliehen, ausleiert, ausgelaufen

An untaught peasant beheld the elements around him and was acquainted with their practical uses. The most learned philosopher knew little more. He had partially unveiled the face of Nature, but her immortal lineaments were still a wonder and a mystery. He might dissect, anatomize, and give names; but, not to speak of a final cause, causes in their secondary and tertiary grades were utterly unknown to him.
—Mary Shelley's Victor (1818)


XXIII.

Zunächst versucht man frisch erinnerte Worte mit dem entsprechenden Gesprächspartner zu kuppeln. Dann irgendwann einmal, das Alter noch weiter zugenommen, spielt soviel angesammeltes Selbstgerede irgends im Kopf, wenn auch nicht direkt aktiv, dass das Streben nach Gesprächsursprung ferner zur eingebildeten Erinnerung an mehrere Plauderer kommt, und das Unterscheiden zwischen deren diversen Einzelpersonen gleicht einem Babyspiel: Einerseits kinderleicht, andererseits ohne verständliche Wörter.


Zunächst gibt es Storys. Echte Storys. Lebensgeschichten. Es gibt dann auch Storys binnen Storys, oder Schachtelgeschichten. Jede Lebensgeschichte ist zugleich eine Schachtelgeschichte. Nicht zu guter Letzt gibt es Berichten solcher Geschichten. Erzählungen innerhalb Erzählungen.

Eine Story allein ist nur ein Ablauf – ein Lebenslauf weder vertellt aus dem Mund, noch auf dem Blatt verteilt. In der Kunst dennoch wird der Lebenslauf zum Erzählstoff, und dann auch eine Binnengeschichte im Interesse von der Rahmenerzählung. Es sei denn, wir reden von einer simplen Story. Es gibt aber keine simplen Storys, zumindest nicht, die wahr sind. Auch nicht unerzählt. Es gibt hingegen komplizierte Methoden, wodurch komplizierte Storys, der Einfachheit halber, verständlich gemacht werden können. Zumindest verständlicher.

In Analogie dazu dient das Sparsamkeitsprinzip im Vergleich zu der fast ein Halbjahrtausend später erfundenen Quantentheorie. Auf den ersten Blick hätte selbst Wilhelm von Ockham – oder Johannes Poncius oder wer auch immer – die Sparsamkeit dieser Theorie nicht erkannt. Gebildet in dieser wird sie ihnen aber vieles erklären. Wenn auch heute wir Bauern das Konzept von deren Wahrscheinlichkeitsverteilung nicht in richtiger Weise begreifen können, existieren zum Glück alle richtigen und falschen Weisen in Boxen von Paradoxen. Das ist bestimmt einfach, ob wir vastehn oda nicht.

Um nun eine vorteilhaft irrige Ableitung der oben genannten Wissenschaft voran zu bringen, präge ich hiermit einen Leitspruch: Eine Geschichte soll nur dann für existierend verstanden werden, wenn eine Notwendigkeit besteht, von ihrer Existenz zu erzählen. Diese Sentenz wirft ein paar Fragen auf. Nämlich, Woraus besteht eine bestehende Notwendigkeit? und nämlich rhetorisch, Ist „ohne Notwendigkeit” gleich mit „nichts Wert” zu verstehen? und Falls ja, Wessen Lebensgeschichte ist so nichts Wert?

Die Antwort ist selbstredend Keine Lebensgeschichte ist nichts Wert. Darauf folgt, dass die Notwendigkeit besteht, Schachtelgeschichten zu erzählen. Bevor ich damit anfange, möchte ich noch schnell einem Missverständnis zuvorkommen. Die Metaphysik umfasst zu Recht ausschließlich das, was noch nicht anders eingeordnet worden ist. Kann sein, dass Etwas jenseits der Physik von sich eine Art von Sinne gibt, wird aber noch lange nicht als verstanden gelten, bis es sich in die Sprache der Wissenskultur übersetzen lässt. Was die Physik angeht, war Quant mal Meta (Lass den Stift stehen, wir rechnen hier nicht).

Dafür aber ist das Unbekannte kein Exklusivrecht der Material- und Biowissenschaften. Noch nicht. Nicht verstanden gewesen? Betrachten. Studieren. Forschen. Postulieren. Falsifizieren. Nicht Widerlegbar? Ist keine Wissenschaft. Noch nicht.

Okay los gehts mit der Story. Es war einmal... nein, nicht wirklich, aber es wird verstanden, was ich meine. Es war in Wirklichkeit zu viel mal zu rechnen und ich hab schon gesagt, wir rechnen nicht. Also... als wäre es einmal gewesen, eine Mutter erzählt dem Kind, ihrer kleinen Tochter, eine Gutenachtgeschichte. Das Mädchen liegt im Bett, die Mutter sitzt im Lesesessel am Bettkante. Sie erzählt ohne Buch. Obwohl dies eine mündliche Überlieferung besagt, ist diese Tradition erst noch jünger als die Tochter. Denn die Mutter ist Blind, ohne Sehkraft seit der Geburt des Einzelkindes. Das ist weit mehr als 1001 Nächte her.

Erzählt wird aus dem Gedächtnis die Geschichte von dem Feuerbringer nach Indianersage. Etwa. Mutti ändert ab, kürzt, schmückt aus. Wo gekürzt wird, wird ausgeschmückt, abgeändert sowieso, aber stets getreu dem Bedeutungskern. Also spricht die Mutter, »Es war einmal...« als das Mondlicht fast fühlbar über das Schlafzimmerfenster zieht. Mit den Worten erinnert sich die Sprecherin bildhaft an die eigene Mutter, wie diese die gleiche Legende nach Hesiod liest. Etwa. Denn auch das Mädchens Großmutter garnierte Geschichten gerne. Also sprach die Mutti von der Mutter, »Es war einmal...« und spricht es immer noch im Geiste der zur Zeit am Bettrand sitzenden Sprecherin voller Mondlicht durch den Stammbaum.

»...ein Feuerbringer...«


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